Der Originalartikel stammt von Jean-Michel Ledeur, ich habe den Text mit seiner freundlichen Genehmigung übersetzt. Die ursprünglichen Artikel sind hier zu finden: Die offensichtlichen Regeln, hier die verborgenen Regeln der Milonga. Mit der Übersetzung möchte ich dazu beitragen, dass in den Milongas im deutschsprachigen Raum mehr getanzt und weniger gerempelt wird. Den Begriff "milonguear" habe ich absichtlich nicht übersetzt, weil es im gesamten Artikel ja eben darum geht, den Begriff mit konkretem Inhalt zu füllen.
Letzten Samstag wurde die Cachirulo-Milonga von einem wilden Haufen furchtbarer Tänzer "überfallen". Besser gesagt von Leuten, die nicht wissen und auch nicht wissen wollen, wie man sich auf einer Tanzfläche benimmt. Der bekannte Tangolehrer und Milonguero Cacho Dante sagte mal: "Bailar bien no es igual que saber milonguear" (Gut zu tanzen ist nicht dasselbe wie zu wissen, wie man in Gesellschaft tanzt).
Ein Freund von mir sprach über das Navigieren und die Rücksicht auf der Tanzfläche, damit das Tanzen in Gesellschaft für alle angenehm bleibt. Eine Freundin betonte das kleinräumige Tanzen. Beide haben Recht, aber "milonguear" besteht aus viel mehr als aus guter Führung, Rücksicht und kleinräumigen Figuren.
Zuerst zu Cachirulo: Es ist meine Lieblings-Milonga in Buenos Aires. Sie findet jeden Samstag von 18 Uhr bis 2 Uhr morgens statt. Die Organisatoren Hector und Norma legen viel Wert auf die Atmosphäre und achten deshalb auf viele Details. Norma begrüsst Dich, Hector weist Dir Deinen Platz zu, dieser ist abhängig von Deinen Tanzkenntnissen und Deiner Beliebtheit. Zwei Seiten des Raumes sind ausschliesslich für die Frauen reserviert, eine weitere für die Männer, die vierte Seite für Paare und Gruppen. Hector bestimmt die Sitzordnung, um "mirada" und "cabezeo" zu vereinfachen. Die Tanzfläche misst zwölf auf sechs Meter und ist damit eher klein. Immerhin finden in der Milonga aber rund 160 Leute Platz. Unnötig zu sagen, dass ab neun Uhr abends bis nachts um eins die Tanzfläche jeweils extrem voll ist. Die berühmtesten Milongueros von Buenos Aires gehen am Samstag dorthin, weil dort aktuell das beste Tanzviveau der ganzen Stadt in Bezug auf "milonguear" anzutreffen ist. Nino Bien, Salon Canning und sogar Club Sunderland sind im Verlaufe der letzten paar Jahre zu einem "Zirkus" geworden, das Tanzen macht dort keinen Spass mehr.
Ich sagte, Cachirula sei von furchtbaren Tänzern "überfallen" worden. Was meine ich damit? Und wer waren die "bösen Buben"? Mit "überfallen" meinte ich, dass sich die Tanzfläche für drei Stunden in ein "Schlachtfeld" verwandelt hatte: Es war unmöglich, eine Tanda ohne einen Zusammenstoss zu tanzen. Ich gebrauche das Wort "Überfall", weil die meisten anwesenden Milongueros (auch ich) mit Tanzen aufgehört hatten und hilflos, verägert sowie frustriert dem Chaos auf der Tanzfläche zugesehen haben.
Es gab zwei Sorten von "bösen Buben": Einige wenige ortsansässige Tänzer, die mit den Begebenheiten an Ort und Stelle nicht vertraut waren (es war Osterwochenende...), vor allem aber ausländische Tänzer, vielleicht Leute vom Cita-Festival. Beide Gruppen ignorierten die Milonga-Regeln (los codigos de la milonga) völlig, nahmen keine Rücksicht auf andere und dachten sich dabei offensichtlich auch nichts. Auf der Tanzfläche war solch ein Durcheinander, dass Hector an diesem Abend den DJ Carlos Rey zweimal bitten musste, die Leute an die "codigos of the milonga" zu erinnern. Wem diese "codigos" grad nichts sagen:
1. Laufe nicht rückwärts
2. Bleibe in Deiner Spur
3. Lasse die Füsse immer am Boden
Diese Punkte nenne ich die "offensichtlichen" Regeln der Milonga. Offensichtlich für Manche von uns, aber von vielen Tänzern werden sie immer öfters ignoriert. Zuerst möchte ich die Erinnerungen in diesem Bereich etwas auffrischen, im zweiten Teil dann noch zusätzliche Regeln nennen, die aus meiner eigenen Tanzerfahrung, aus vielen Beobachtungen sowie aus Diskussionen mit Cacho Dante und Freunden stammen. Diese Regeln nenne ich "verborgene Regeln" der Milonga. Ich hoffe, die Respektierung all dieser offensichtlichen und verborgenen Regeln hilft allen zu einem besseren "milonguear".
Zum besseren Verständnis sollte ich noch "gegen die Tanzrichtung" hinzufügen. In Teil zwei werden wir sehen, wie man auf einer vollen Milonga einen Rückwärtsschritt setzen kann. Diese Regel ist die Wichtigste, viele Tänzer halten sich leider nicht daran und laufen regelmässig rückwärts gegen die Tanzrichtung. Solche Rückwärtsschritte haben mehrere negative Auwirkungen: Erstens können Tanzpaare ineinander prallen. Doch die Rückwärtsschritte behindern auch ohne Aufprall die Navigation des nachfolgenden Paares, weil die Bewegung des ersten Paares unvorhersehbar wird: Der freie Tanzraum des Nachfolgepaares wird beschnitten. Dies wiederum wirkt sich mindestens auf ein oder zwei weitere Paare weiter hinten aus, weil die Bewegungen des jeweils vorderen Paares ebenfalls unvorhersehbar werden.
Damit ist gemeint, dass man nicht auf eine andere Spur wechseln soll. Nach innen, wenn Du aussen tanzt -- oder nach aussen, wenn Du innen tanzt. Bleib auf Deiner einmal gewählten Spur und tanze kleinräumig. Vergleiche den Tanzfluss mit dem Autoverkehr: Stell Dir eine Autobahn vor, auf der ein Auto vor Dir dauernd die Spur wechselt oder permanent zwischen zwei Spuren fährt. Wie würde sich das auf Deinen Fahrstil auswirken? Ein Tänzer, der seine Spur nicht hält, ist eine Plage für die anderen Tänzer.
Diese Regel gilt für Frauen und Männer, für Frauen ist sie aber besonders wichtig. Halte die Füsse tief und lasse Deine Beine nicht herumfliegen, um die Leute um Dich herum nicht zu verletzen. Hohe Absätze können leicht Verletzungen verursachen. Erfahrene Milongueras wissen, wie sie ihre Verzierungen tief und klein halten, wenn die Tanzfläche voll ist. Aber auch der Führende muss darauf achten, dass die Frau mit einem Boleo nicht einen Tisch trifft oder jemanden verletzt.
Diese drei Regeln sind die Garantie für den Genuss aller Beteiligten beim Tanzen in Gesellschaft. Sie sagen zwar, was man tut oder nicht tut, aber nicht, wie man kleinräumig und genussvoll mit dem Partner, den anderen Paaren und der Musik tanzt. Deshalb erkläre ich nun die "verborgenen Regeln" der Milonga.
14 Ratschläge fürs Tanzen auf überfüllten Milongas.
Milongueros müssen auf der Tanzfläche niemandem etwas beweisen. Sie wissen, wie man kleinräumig und fliessend tanzt. Aber wie alte erfahrene Segler spüren sie den herannahenden Sturm und lassen das Schiff dann im Hafen. Letzten Samstag beispielsweise blieben die meisten Milongueros während der schlimmsten Stunden einfach sitzen.
Letzten Samstag wies Cacho auf eine Asiatin und sagte mir, er würde sie bei einer solch überfüllten Tanzfläche nie auffordern. Sie schleudere ihre Füsse bei jedem Boleo oder einer anderen Verzierung nach oben. Auch ich war immer vorsichtig und fordere nur Frauen auf, bei denen ich mir sicher bin, dass ich sie auf der Tanzfläche sicher führen kann.
Diese Regel stammt sowohl aus meiner eigenen Tanzerfahrung wie auch aus meiner Beobachtung erfahrener Milongueros. Diese tanzen die meiste Zeit über mit dem Gesicht zur Aussenseite der Tanzfläche hin, lediglich ein wenig nach links angewinkelt. Aus dieser Stellung heraus starten sie ihre Figuren. Wie auf der Zeichnung unten zu sehen ist, entsteht so jeweils ein "sicherer Bereich" (in gelb). Aus diesem Bereich heraus kann der Führende die meisten Drehungen durchführen und dann wieder in die genannte Ausgangsposition gehen. Einen erfahrenen Milonguero sieht man sehr selten mit dem Gesicht vorwärts zur Tanzrichtung gerichtet.
(Illustration: Jean-Michel Ledeur)
Starte einen Ocho cortado oder Rechts- und Linksdrehungen aus dem sicheren Bereich. Nach einer gerade Zahl von halben Drehungen bist Du wieder an der Ausgangsposition. Kommst Du zu nahe an die Aussenbegrenzung, kannst Du einen Rückwärtsschritt in die Tanzfläche hinein setzen, ohne gegen die Tanzrichtung zu laufen. Solange Du beim Rückschritt auf der imaginären Linie bleibst, sollte es keine Zusammenstösse mit einem anderen Paar geben.
Betrachte ein Tanzpaar als eine Einheit, sorge bei Drehungen für einen tatsächlichen Platzwechsel: Führe die Tanzpartnerin an Deinen Platz, und tanze selbst an ihren Platz. Damit tanzt Du kleinräumig und gibst den anderen Paaren mehr Platz auf der Tanzfläche.
Wenn Du nach Buenos Aires reist, achte auf die Milongueros, die eine ganze Drehung sauber nach rechts machen können, ohne dafür mehr Platz als die Breite ihrer Schulter zu benötigen. Um kleinräumig zu drehen, starte die Drehungen eher mit der Energie nach oben als in Kreisrichtung, und setze Deinen Schritt ausserhalb des Fusses der Partnerin.
Cacho fasste die Grundlagen des Tanzflusses wie folgt zusammen: Du drehst abwechselnd in beide Richtungen und wartest, bis das Paar vor Dir weiterzieht. Sobald der Platz frei wird, gehst Du dorthin. Dieses Spiel wiederholt sich dauernd. Ganz simpel.
Das mag jetzt vielleicht banal klingen, aber ich sehe so viele Führende, die nicht darauf achten, was um sie herum vor sich geht. Japaner scheinen für dieses Verhalten besonders anfällig zu sein. Ich weiss, wovon ich rede, ich habe zwei Jahre regelmässig in Tokio getanzt. Manche Männer ignorieren beim Tanzen ihre Umgebung völlig und sind dann beleidigt, wenn sie jemanden rammen!
Wir wissen alle, wie es sich anfühlt, wenn man hinter einem Paar tanzt, dass sich nicht weiterbewegt: Das Tanzen wird schwieriger und wir werden ungeduldig. Also: Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg auch keinem anderen zu. Sei kein Bremser. Nutze den vor Dir sich öffnenden Platz. Dieser Platz gehört Dir, denn der Führende vor Dir wird nicht rückwärts laufen!
Das bringt Dir und Deiner Partnerin Entspannung und gibt Euch die Gelegenheit, die Figur zu tanzen, die ihr so sehr liebt.
Stosse nicht, schlage nicht und ramme keine anderen Paare, auch wenn Du keinen Platz hast. Die Tanzfläche ist beschränkt.
Ausser natürlich, das Paar vor Dir hält sich nicht an die Regeln :-)...in diesem Fall musst Du einen Weg finden, ihm verständlich zu machen, dass er weitergehen kann.
Zuviele Tänzer kümmern sich nicht nur einen Dreck um die anderen Paare, sondern überschätzen auch ihre eigenen Tangokünste. Wenn die Tanzfläche gerammelt voll ist, sind bestimmte Spezialfiguren nicht mehr sicher tanzbar. Streiche sie vorläufig aus Deiner Liste und tanze zurückhaltend, bis wieder genug Platz da ist
Viele Tänzer (vor allem aus dem Tango Nuevo-Bereich) beschweren sich, sie könnten bei fehlendem Platz die Musik nicht mehr interpretieren. Das liegt daran, dass ihr Tango auf die Interpretation durch Schritte oder Schrittfolgen beschränkt ist. Beim Milonguero-Stil geht es aber eher darum, die Musik mit dem Oberkörper als mit den Schritten zu interpretieren. So kann man auch mit einem sehr kleinen Figurenarsenal endlos viele verschiedene musikalische Nuancen ausdrücken.
Zusammenfassend empfehle ich Cachos Artikel "Der Tango und die Akrobatik" sowie "Kurzdefinition eines Milonguero". Denn Tanzen in Gesellschaft ist kein Kampf um Raum und Aufmerksamkeit, sondern eine musikalische Umarmung mit Deiner Tanzpartnerin sowie eine schöne Zeit zusammen mit Freunden auf der Tanzfläche.
Die meisten Regeln betreffen vor allem die Führenden. Das ist logisch, weil sich der Führende um die Navigation und die Choreograpie kümmern muss. Allerdings ist es für die Frau genauso wichtig zu wissen, wie sie kleinräumig tanzen kann. Es ist eine wahre Freude, mit einer vorsichtigen Milonguera zu tanzen. Hier in Buenos Aires geniesse ich jede Woche die Tänze mit Betty. Ihr Gefühl für den Tanzfluss ist verblüffend. Auch auf dichtgedrängten Tanzflächen tanzt sie musikalisch und dynamisch, ohne je in andere Paare zu donnern. Angepasstes Tanzen für Frauen wäre ebenfalls einen Artikel wert.
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